1870, Briefe 55–117
83. An Paul Deussen in Minden
<Basel, Juli 1870>
Lieber Freund,
nicht zürnen! Ich schreibe sehr spät und auch heute nur wenig. Ja ich schreibe nur, um geschrieben zu haben. Denn es greift mich an, und etwas Wesentliches Dir zu melden wüßte ich nicht.
Ich liege nämlich schon ziemlich zwei Wochen zu Bett in Folge einer Fuß Verrenkung.
Wenn wir nun wieder einmal zusammen treffen, wie wird’s da werden? Verstehen wir uns noch? Vielleicht erst jetzt? Wer weiß?
Mein Freund Rohde, der nach 15 monatlichem Aufenthalt in Italien mich 14 Tage in Basel besuchte, hat in glänzender Weise die Freundschaftsprobe der Entfernung (c. 3 Jahre) bestanden.
Hierzu hilft selbst ein so zauberkräftiger Name wie der Schopenhauers nicht: es kommt darauf an, eins oder wenigstens einmüthig zu sein. Ob jeder dieselbe Formel findet sich auszudrücken, ist nicht das Wichtigste.
Wir glauben uns durch Aufnehmen eines großen Genius zu erweitern. In Wahrheit verengern wir den Genius, daß er in uns hinein kann.
In allen ernsthaften Dingen ist jeder Mensch sein eigen μέτρον. Was ist Freundschaft? Zwei Menschen und ein μέτρον.
Willst Du mich nicht einmal besuchen?
Treugesinnt Dein alter
Freund
Fr. N.
(Daß ich seit März Ordinarius bin, hast Du wohl gelesen?)