1870, Briefe 55–117
117. An Friedrich Ritschl in Leipzig
Freitag vor Jahresschluß. <Tribschen, 30. Dezember 1870>
Verehrtester Herr Geheimrath,
auch ich wünsche Ihnen zum Jahreswechsel auszudrücken, daß ich Sie immer in dankbarster Erinnerung halte und über nichts mehr erfreut sein kann, als wenn ich von Ihrem rüstigen Wohlbefinden und Ihrem Wohlwollen gegen mich höre. Möge uns allen das neue Jahr eine leidliche und erträgliche Antwort auf die vielen Fragezeichen geben, zu denen uns die Gegenwart zwingt, möge vor allem die staatliche Machtentfaltung Deutschlands nicht mit zu erheblichen Opfern der Kultur erkauft werden! Einiges werden wir jedenfalls einbüßen und hoffentliche auch dies nur in Hoffnung auf eine spätere reichliche und vielfältige Wiedererstattung
Um Ihen etwas von meinen Studien zu berichten — so bin auch ich recht ordentlich in die Netze der Rhythmik und Metrik gerathen, bekenne Ihnen übrigens meine Überzeugung, daß je mehr wir von der modernen Musik zum Verständniß der Metrik hinzugewonnen haben, wir um so weiter uns auch von der wirklichen Metrik des Alterthums entfernt haben; wenn ich auch glaube daß dieser ganze Prozeß von G. Hermann bis H. Schmidt einmal durchgemacht werden mußte. Mit Westphal bin ich fast in allen wesentlichen Punkten nicht mehr einverstanden. Sehr freue ich mich darauf, in dem angekündigten Buche von Brambach auch Ihre Lehren (so viel ich weiß, in der Vorrede) vorzufinden; wenn Brambach selbst noch im Sinne seiner „Sophokleischen Studien“ dies neue Buch verfaßt hat, so fürchte ich auch ihn auf einem Irrpfade anzutreffen. Hier thut einmal ein völliger Radikalismus noth, eine wirkliche Rückkehr zum Alterthum, selbst auf die Gefahr hin, daß man in wichtigen Punkten den Alten nicht mehr nachfühlen könnte und daß man dies gestehn müßte. —
Von der Berufung des Prof. Lange nach Leipzig habe ich in diesen Tagen gelesen. Ich habe mir den Mechanismus dieser Berufung nicht klar machen können, weil ich seit dem Oktober nichts mehr von Leipzig gehört habe. Jedenfalls spüre ich, daß Bursian nicht durchgebracht worden ist: vielleicht ist Lange das Resultat eines Compromisses. —
Mit meinen Baseler Verhältnissen bin ich zufrieden. Jetzt wird ein philosophischer Lehrstuhl frei, da Teichmüller nach Dorpat berufen ist. Ich lese jetzt Hesiod und Metrik, im Seminar Cicero’s Academica. Wir haben 12 Zuhörer. Der alte Gerlach ist von unverwüstlicher Natur und — jedenfalls für das Pädagogium ein sehr guter Lehrer. Was mir hier fehlt, ist eins: Zeit.
Ich komme zum Schluß und wiederhole meine Wünsche für Ihr Wohlergehen. Zugleich bitte ich Ihrer Frau Gemahlin meine herzliche Gratulation aussprechen zu dürfen.
In steter Treue und Dankbarkeit
Ihr Friedrich Nietzsche