1870, Briefe 55–117
63. An Oscar Oehler in Halle
Basel, Schützengraben 45. <vermutlich 13. Februar 1870>
Lieber Oskar,
das ist ja sehr schön, dass der rekommandirte Brief nichts Unangenehmes enthält, wie ich zuerst befürchtete: noch schöner, dass ich endlich einmal in der Lage bin, Dir eine kleine Gefälligkeit zu erweisen. Nur in einer Beziehung musst Du mich entschuldigen: da ich nämlich hier am Ort mein Geld nicht habe, so musste ich die Sache meiner Kassenverwalterin kundthun, die übrigens die verschwiegenste Person von der Welt sein kann: meine Schwester. Diese wird Dir so schleunig als möglich die Summe zuschicken.
Gern hätte ich aus Deinem Briefe noch etwas über Dein Befinden, Deine Absichten usw. gehört. Ich denke noch mit Vergnügen an unsre Zusammenkünfte in Wittekind: obwohl für mich eine grosse Kluft zwischen damals und jetzt liegt. Es scheint mein Loos zu sein, etwas schnell zu leben. Was macht das „edle“ Ross, welches ich damals ritt? Und der tüchtige Arzt Volkmann, den ich seit der Zeit einmal wieder getroffen habe, ohne ihn anzureden, weil er phantastisch-geschmacklos wie ein theatralischer Jude gekleidet war. Und was ist aus dem freundlichen Herrn Volk geworden? Und aus der üppigen, doch etwas verkommenen Kefersteinschen Familie, mit der ich so schöne Ananasbowlen geschlürft habe?
Doch um meinen Brief nicht zum Fragezeichen zu machen, setze ich einen Punkt unter die ganze Geschichte, nachdem ich Dich bestens gegrüsst habe
als treuer und
— in unserm Falle — verschwiegener
Neffe
F Nietzsche Dr.