1868, Briefe 559–606
571. An Friedrich Ritschl in Leipzig
Naumburg d. 12 Mai 1868.
Hochverehrter Herr Geheimrath,
die beste Arzenei bleibt doch ein guter und theilnahmevoller Brief: was ist Pflaster und Salbe gegen das stärkende Gefühl des Wohlbehagens, wie es z.B. Ihre gütigen Zeilen in mir hervorriefen. Und so nehmen Sie denn diesmal meinen besonderen Dank für diesen quasi-ärztlichen Beistand, ja für eine momentane κάθαρσις τῶν παθημάτων.
Übrigens sind diese παθήματα langwierig und langweilig: bei diesem vollkommnen Frühlingswetter sehne ich mich nach meinem Pferde und dem soldatischen Dienste, aber die Wunde thut mir nicht den Gefallen, sich zu schließen.
Was man bei solcher unfreiwilliger (wenn auch nicht ganz unwillkommner) Muße anfängt, davon bekommen Sie heute wieder einen Beweis. Es hat mir seit meiner Schulzeit jenes schöne Danaelied des Simonides wie eine unvergeßliche Melodie im Kopfe gelegen; was kann man also bei solchem Maiwetter thun, als etwas „lyrisch“ zu werden? (Wenn Sie nur nicht gar diesmal auch eine „lyrische“ Conjektur in meinem Hefte entdecken!)
Die Danae ist beiläufig ein bescheidnes Kind: in ihrem Kasten sitzend, ist sie nicht an große Räumlichkeiten gewöhnt und bittet deshalb für sich nur um etwa 11—12 Seiten Ihres Museums. Auch kann sie warten. —
In treuer Verehrung
Friedrich Nietzsche